Aus dem Gespräch zwischen dem ehemaligen Widerstandskämpfer Stéphane Hessel, 93, und dem Philosophen und Publizisten Richard David Precht. Erschienen im Feuilleton der Wochenzeitschrift 'Die Zeit' (1. Juni 2011, Nr. 23)
Hessel: Ich plädiere für das Prinzip des Experiments. Experimente sind überhaupt das Wichtigste für uns. Wir sollten in Demokratien soziale und politische Experimente befürworten, damit die Leute Freiheit empfinden. Anders als im französischen Schulsystem, das Lehrer für jeden spontanen Unterrichtszugang bestraft. Wie könnten wir Einfluss ausüben auf die jungen Lehrer, die neu in den Beruf kommen, und sie dazu bringen, eine Vision der Zukunft zu haben?
Precht: Normalerweise wird einem das Visionäre in der Referendaritsausbildung ausgetrieben. Da zieht man den zukünftigen Lehrern den Zahn. Sie haben sich an vorgefertigte Pläne zu halten, zu möglichst hundert Prozent. Sie dürfen nicht in eine Klasse gehen und sagen: Ich bin gespannt, was heute herauskommt. Sondern die Ziele müssen sie vorher definieren, und dann kommt es darauf an, dass sie diese Ziele erreichen. Das ist das Gegenteil von dem, was für Schüler interessant ist. Ich lerne, wenn meine Neugier gefördert wird. Wenn das Ziel feststeht, kommt es auf mich nicht an.
Hessel: Dann werde ich zum Instrument. Menschen dürfen keine Instrumente für Zwecke sein [...].
„Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh,
Nicht allein im Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören.“
Dass dies mit Verstand geschah
war uns Ref`rendaren klar
Doch wir mussten nun erfahren
Dass die Schüler mit den Jahren
Nicht mehr dumme Streiche machen
Nicht mehr durchgedachte Sachen
Keine Lust am Necken haben
Sich an keinem Witze laben
Und nicht mit den Füßen schaben
Wenn sie Pauker foppen können
- wollt ihr uns den gar nichts gönnen?
Fragten wir an manchen Tagen
Aber, nun. Ich kann Euch sagen
Ref`rendaren blühen Streiche
Nicht von unten,
sondern oben:
Unter Schülern leidet keiner
Jedenfalls nicht sonderlich
Nein, jetzt necken sie uns feiner
Und so mancher merkt es nicht
Um uns etwas Spaß zu gönnen
Tat das Seminar so viel
Zeigte uns sein ganzes Können
Was uns häufig doch missfiel
„Nun, seits froh
Was wollt ihr klagen
Ihr seits durch und seid jetzt Lehrer“ -
Hörten wir so manche sagen
- und wir wurden Lehrer, leerer
Alles ham’ wir ausprobiert:
Platzdeckchen zum Placemat machen
Und noch andre tolle Sachen
Planspiel und ein Rollentausch
Tafelbild mit Samt und Flausch
Stühle hin und her geräumt
Bis der Mund uns zugeschäumt
In der Gruppe auch gepuzzelt
Und den Mund kaputt gefusselt
Kreide im Akkord verschrieben
Schüler hin und her getrieben
Nächtelang den Kopf zerzaust
Bis wir waren ganz verlaust
Freunde in den Wind geschossen
Und noch andere Genossen
Galeriegang tatata….
Wunderbar!
Treu dem Seminar geschworen
Sogar mit geputzten Ohren!
Doch es schien nie gut genug
Und da kamen schon auch Sorgen
Waren wir nicht mal ganz Klug
Sollten wir uns Klugheit borgen?
Doch bei wem?- Das war die Frage?
Und das fast an jedem Tage
Unterrichtsbesuche planen
Unterrichtsbesuche schreiben
Hier und da Kritik absahnen
Und uns richtig einverleiben
Keine Zeit für Freizeit haben
Nur noch Bücher, Korrekturen
Fachleiter, die zu uns sagen
Schaut doch mal auf eure Uhren
Nun ist diese Stund vorbei
Nein, das geht nicht, Zeit ist rum
Sicherung?
So verlief denn manch Disput
Den wir führten nach Besuchen
Wirklich oft nicht gänzlich gut
„Nein, das war ein Trauerspiel
Willst DU wirklich Lehrer sein
Schüler lern` bei Dir nicht viel
Geh doch lieber wieder heim!
Textarbeit, das kannst Du schon
Wie wär mal was Kreatives?
Und dann dacht man ohne Hohn
Gut ich mach jetzt das und dieses
setze Kreatives um -
doch schon nach der nächsten Stunde
fühlte man sich ganz schön dumm:
Standbild, Mind Map, Lückentext
Fish-Bowl, think, pair, share
Elfchen, Kopfstand, double-next
Feedback, double-pair
Kreatives kannst du nur?
Ich will Arbeit nah am Text?
Sei doch bitte nicht so stur
Folge meinen Sätzen jetzt!
So und so musst du das machen
So und so muss Unt’richt sein
Mensch, was machst Du denn für Sachen
Drüber kann ich nicht mehr lachen!
Erst ein Einstieg nicht zu lange
Ein Impuls,
wart nicht zu lange
nicht zu kurz
dann rasch zum Thema
Das ist die die Erarbeitung
Überleg wie lang sie lesen
Achte auch die schwachen Wesen
Wie lang braucht die Textarbeit
Überleg dir gut die Zeit
Partner, Placemat, Einzel, Puzzle
Welch Methode willst DU wählen?
Man, was bist Du für ein Schussel
Du musst erst die Schüler zählen
Denk an think und pair und share
Und bleib zu den Schülern fair
Schüler solln das Thema nennen
ohne dieses zu verkennen
Führe sie zum Thema hin
sodass es sie selbst bemerken
und erkennen seinen Sinn
zudem musst du sie bestärken!
Sei doch nicht so dominant!
Deine Schüler sind so still
Weißt Du was ich übel fand
Was ich wirklich gar nicht will?
Dass Du so viel Fragen stellst
Und das Schülerhirn erhellst
Dadurch werden Schüler schlau
Dass weiß man doch ganz genau
Besser ists sie wissen nicht
Vielmehr als der kleiner Wicht
Sollte man es gar SO deuten
Hier bei diesen klugen Leuten?
DIE Moral von der Geschicht
Die verstand man öfters nicht
Dass die Schüler werden schlau
War uns allen immer wichtig
Das weiß man doch ganz genau
Diskutieren wär hier nichtig
Aber was bring` all die Sachen
wenn das Wissen hier so fehlt
gut, wir konnten es so machen
doch wir haben uns gequält.
Nur noch an Methoden denken
Nur denken an das Wie
darauf nur das Hirn hinlenken
Hinterfragen? Bitte nie!
Zaghaft stellt sich da die Frage
Was steht hier im Vordergrund
Denn es war ne schöne Plage
Jede so geplante Stund
Geht es wirklich hier um Wissen
Oder vielmehr um Methoden
Logik darf man hier schon missen!
-Doch was kann es Schönres geben
In des Refrendares Leben
Als Methoden zu erproben!
Hier ein bisschen Unterhaltung
Entertainment, Jubel, Trubel
Spaßgesellschaft! Achtung Achtung!
Komm sie rein, hier rollt der Rubel
Wo sind wir hier nur gelandet
Jahrmarkt, Schule, Seminar
Fühlten uns wie grad gestrandet
Orientierung sonderbar
Wie man es auch nur versuchte
Irgendwie war immer was
Denn wo man nach Fehlern suchte
Fand man für gewöhnlich was
Manche ging` daran zu Grunde
Sie zerbrachen an den Sorgen
Fehlen heute in der Runde
In der Schule jeden Morgen
Wie ham wir das überstanden?
Manchmal ging es an die Würde
Woher wir die Kräfte fanden
Und so nahmen jede Hürde
Ist uns manchmal nicht ganz klar
Doch dass wir auch Freunde fanden
Und so knüpften manche Banden
Das ist auch nun wirklich wahr
Es gab doch auch nette Leute
Die uns halfen und uns stützten
Und in dieser ganzen Meute
Uns im Alltag öfters nützten
Sie bogen den Rücken gerade
Wenn er oft vom Gram gebeugt
Führten uns auf neue Pfade
Was von Menschlichkeit nur zeugt
Idealisten braucht die Welt
Menschen, die an Wissen glauben
Menschen, die die Schüler stützen
Und gern in die Schule gehn
Was soll da die Floskeln nützen
Die uns oft im Wege stehn
Gehen wir hinaus ins Leben
Und versuchen unser Glück
Dann, wenn wir nach Gutem streben
Denken wir an das zurück
Was uns einst im Gram verbannte
Das, was jeder von uns kannte
Das, was uns auf ewig bleibt
Ist der Glaube an das Gute
Und an eine gute Zeit